Familie – Wege zur Veränderung Teil 2

von | Feb. 27, 2020 | Familienleben, Persönliches wachstum | 0 Kommentare

Im letzten Artikel haben wir uns ein Raster angesehen, der verschiedene Familiendynamiken darstellt.

Dieser Raster wurde von den Autoren des Buches „Aber keiner darf‘s erfahren – Scham und Selbstwertgefühl in Familien“ entwickelt, um Familien zu helfen, in den Prozess der Veränderung einzutreten.

Die Autoren sind Therapeuten die viel mit Familien arbeiten – und die eigene Familien haben. Sie sind sich deshalb nur zu bewusst, dass ein solcher Prozess der Veränderung sehr herausfordernd ist.

Im letzten Artikel habe ich die vier Quadranten beschrieben, in diesem Artikel werde ich versuchen, spezifischer auf diesen Prozess der Veränderung einzugehen.

Wenn du nicht mehr genau weisst, worüber der letzte Artikel handelte (oder du zuerst auf diesen Artikel gestossen bist), so ist es sicher hilfreich für das Verständnis, wenn du den letzten Artikel hier nachliest.

 

Hast du dich in einem dieser Quadranten wiedergefunden?

 

Ich habe, seit ich den letzten Artikel gepostet habe, ein paar Gespräche zum Artikel geführt.  Dabei haben mich Leute gefragt:

„Ich habe unsere Familie in diesem oder jenen Quadrant wiedererkannt. Aber dort möchte ich mich ja gar nicht befinden!
Wie komme ich jetzt von dort zum Quadrant der Intimität?!“

Zuerst einmal ist es wichtig zu wissen, dass solche Dynamiken Zeit brauchen, sich zu lösen und zu verändern.

Der erste und grösste Schritt ist jedoch, zu erkennen, wo man steht und wohin man will.
Covey beschreibt im zweiten Kapitel seines Buches“ Die 7 Wege zur Effektivität für Familien: Prinzipien für starke Familien“ wie wichtig es ist, ein Ziel zu haben. Zu wissen, wohin man gehen möchte.

Er schreibt:

Eine Vision ist größer als „Ballast“ – größer als der negative Ballast der Vergangenheit und sogar der angesammelte Ballast der Gegenwart.
Eine Vision gibt Ihnen die Kraft und den Zweck, sich über den Ballast zu erheben und auf der Grundlage dessen zu handeln, was wirklich wichtig ist.
Nun gibt es viele Möglichkeiten, dieses Prinzip der Vision – mit einem klaren Ziel im Kopf beginnend – in der Familienkultur anzuwenden. Sie können ein Jahr, eine Woche oder einen Tag mit dem Ziel vor Augen angehen. Sie können einen Familienurlaub oder -aktivität mit dem Ziel beginnen, das Ende im Auge zu behalten.“ 

Ich glaube, dass es einen grossen Unterschied machen wird, ob du mit deiner Familie einfach in den Tag hineinlebst – oder ob du bewusst mit einem Ziel vor Augen vorangehst.

Natürlich wirst du auch dann nicht immer fähig sein, auf Kurs zu bleiben; aber welcher Pilot hat auf seinem Flug keine Turbulenzen, Gegenwind oder muss einen Umweg fliegen, um ans Ziel zu gelangen? Ähnlich ist es mit dem persönlichen Prozess, mit einem Ziel vor Augen: Auch hier wird es Zeiten geben, wo Turbulenzen  und Gegenwind dir den Weg anstrengend machen, oder Dinge, die dich einen Umweg machen lassen. Doch das Wunderbare daran ist, du kommst trotzdem deinem Ziel immer näher.

Wir werden uns nun anhand von drei Beispielen – Berührung, Humor und Spitz- oder Kosenamen – ansehen, wie wir kleine Schritte in die richtige Richtung machen können.

Denn diese drei Dinge werden in den verschiedenen Quadranten ganz unterschiedlich gehandhabt. Sich im täglichen Umgang dieser drei Qualitäten bewusst zu sein und mit dem Ziel vor Augen Änderungen vorzunehmen wird den Prozess ins Rollen bringen und vereinfachen.

Berührung

Berührung im Fenster des aktiven Missbrauchs:
Im Fenster des aktiven Missbrauches sind Berührungen zudringlich und schmerzhaft (körperlich oder seelisch). Sie hinterlassen das Gefühl, ausgenutzt zu werden. Berührungen können Schläge bedeuten, sexuelle Gewalt findet statt. Berührung kann hier auch verführerische oder feindselige Botschaften von Dominanz oder Unterwerfung beinhalten.

 Berührung im Fenster des passiven Missbrauches:
Hier ist die Berührung kontrollierter, vorsichtiger, straffer; es handelt sich zwar um Missbrauch, doch ist dieser nicht so offensichtlich. Die Botschaften sind undurchsichtiger als beim aktiven Missbrauch, jedoch sind sie auch hier verletzlich und unterminieren den Versuch, Intimität und Nähe aufzubauen.

Berührung im Fenster der Formalität:
„Im stillen Fenster sind die Berührungen vorsichtig, kontrolliert und respektvoll.“ Spontanität, Risiko und Überraschung werden gemieden, egal ob es sich um einen Abschiedskuss, Händedruck oder sexuellen Kontakt zwischen den Eltern handelt.
Berührungen sind mechanisch und sind mehr wie ein Ritual als eine Botschaft der Liebe und der Vertrautheit.

 Berührung im Fenster der Intimität
Im vertrauten Quadrant ist die Berührung ehrend. Sie darf auch kraftvoll und spontan sein. Bei Umarmungen und Liebkosungen kommt Zärtlichkeit zum Ausdruck.

Humor

Humor im Fenster des Aktiven Missbrauchs:
Hier besteht Humor darin, auf Kosten anderer zu lachen. Es ist ein Humor der von Giftigkeit, Sarkasmus oder Feindseligkeit geprägt ist. 

Humor im Fenster des passiven Missbrauchs
Wenn der Missbrauch subtiler abläuft, ist die demütigende Botschaft im Humor meist undurchschaubar. 

Humor im Fenster der Formalität
Weil in diesem Fenster die Interaktionen kontrolliert ablaufen, ist Humor nur von geringer Bedeutung und wenn es welchen gibt, so wird er unpersönlich sein.

 Humor im Fenster der Intimität
Im vertrauten Quadrant wird viel gelacht. Man kann durchaus auch über besondere Charakterzüge, Vorlieben oder sogar Schwächen anderer lachen; jedoch wird der Humor immer geprägt sein von Achtung, Annahme und Verständnis.

Spitz-oder Kosennamen im Fenster des Aktiven Missbrauchs
Spitznamen sind hier offenkundig böse. Sie tun weh und wirken demütigend.

Spitz-oder Kosennamen im Fenster des passiven Missbrauchs:
In diesem Fenster sind Spitznamen heimtückisch. Es kommen auch Etiketten ins Spiel. Spitz- und Kosenamen werden auf eine Art und Weise gebraucht, dass sich die andern „gestört“ und „unfähig“, „faul“ oder „dumm“ vorkommen.

Spitz-oder Kosennamen im Fenster der Formalität
Kosenamen in diesem Fenster können variieren und können durchaus niedlich oder witzig sein. Jedoch werden sie, auch wenn sie nicht abwertend gemeint sind, nicht ein Zeichen der Innigkeit oder der Vertrautheit sein.

Spitz-oder Kosennamen im Fenster der Intimität
Spitznamen sind ehrend, auferbauend und liebend. Sie widerspiegeln die zärtliche Beziehung, die die Familie untereinander pflegt.

Ich fand diese drei Beispiele sehr interessant, denn sie ermöglichen es einem, sich bewusst in Bewegung zu setzen:

Am Anfang bedeutet das vielleicht, erfolgreich eine verletzende Bemerkung zu verkneifen oder eine manipulierende Handlung bewusst zu unterlassen. Weiter im Prozess kommt schon eine bewusste, wenn auch noch etwas steife und formelle Umarmung oder eine vorsätzliche, positive Aussage über das Kind, was schon viel konstruktiver ist. Der letzte Schritt ist dann die herzliche und auf erbauende Beziehung untereinander.

Was mir immer wieder hilft, aus meinen Mustern auszubrechen und mich weiter zu verändern, ist etwas, was Brené Brown in ihrem Buch „I thought it was just me“ „Scham reden“ (speaking shame) nennt.

Sie beschreibt: 

„Es gibt nichts frustrierenderes und manchmal auch beängstigenderes, als Schmerzen zu empfinden und unfähig zu sein, diese jemandem zu beschreiben oder zu erklären. Es spielt keine Rolle, ob es sich um körperliche oder emotionale Schmerzen handelt. Wenn wir nicht die richtigen Worte finden, um anderen unsere schmerzhaften Erfahrungen zu erklären, fühlen wir uns oft allein und ängstlich. Einige von uns können sogar Wut oder Zorn empfinden und diese Empfindungen ausleben.“ [1]

Das ist wahr für jeglichen Schmerz, doch auch gerade für Scham. Und wie wir in den letzten Kapiteln gesehen haben, ist Scham ein prädominierendes Thema, das die Familiendynamik beeinflusst und prägt.

Brown sagt:

„Indem wir über Scham sprechen, können wir anderen sagen, wie wir uns fühlen, und um das bitten, was wir brauchen. Das sind die Grundvoraussetzungen für Resilienz und Beziehung.“[2]

Als ich anfing „Scham zu reden“ – realisierte ich, dass andere mich nicht so wahrnehmen, wie ich mich sah.

Wenn ich merke, dass Scham droht, Distanz in meine Beziehungen zu bringen, wende ich meine effektivste Waffe an:
Ich „rede Scham“:

Anstatt mich zurückzuziehen (Da ich ja die Tendenz habe, ins Formelle Fenster abzurutschen), versuche ich, meine Realität in Worte zu fassen:

  • „weisst du, ich habe mich schuldig gefühlt, als du mich darauf aufmerksam gemacht hast“
  • „War es ok für dich, wie ich mit deiner Mutter geredet habe? Ich habe mich etwas verunsichert gefühlt ab deinem Blick“
  • „Tut mir leid wenn ich so kurz abgebunden bin. Es war ein heftiger Tag und es hat nichts mit dir zu tun.“
  • „Wow, das hat mich eben verletzt, diese Bemerkung. Ich kann mit diesem Thema noch nicht so gut umgehen“
  • Etc.

 

Mir ist es schon mehrmals passiert, dass ich mich bei einer Weiterbildung immer wieder zu Wort meldete; einfach, weil mich die Thematik so faszinierte. Am Ende des Kurses fühlte ich, wie die Scham in mir hochstieg: „Sicher waren es die anderen überdrüssig, wie ich immer unterbrochen habe!“ , „Wieso konnte ich wieder mal nicht einfach Ruhig sein?“  Ein kurzes Nachfragen (und die verwunderte, auf erbauende Antwort „Nein, gar nicht, es war sehr interessant,“ oder „ich wünschte, ich würde es wagen, mich so zu äussern“)  zeigten mir, dass diese Scham nichts mit der Realität zu tun hat, wie mich andere sehen – sondern wie ich mich selbst manchmal noch sehe!

 

Es war vor ein paar Tagen, als ich einen wichtigen Text verfasste, und ihn Benny zu lesen gab.  Benny ist mein grösster Fan aber auch mein ehrlichster Kritiker, und er fand tausend Dinge, die ich anders schreiben könnte.
Dies war, nach einem herausfordernden Tag, zu viel für mich. Ich merkte, wie ich direkt in das „formale Fenster“ abrutschte. Er merkte es auch, und fragte: Alles ok? Habe ich dich verletzt?! Und ich, statt (wie ich es schon oft gemacht habe) einfach zu sagen „Nein, alles ok“ und eine längere Zeit dort zu bleiben, sagte ihm: „ Oh weisst du, es war ein anspruchsvoller Tag, und ich fühle mich gerade recht verletzlich. Ich kann gerade nicht so gut mit Kritik umgehen.“ Innerhalb von zwei Minuten landeten wir wieder im Fenster der Intimität und konnten, nachdem die Kinder im Bett waren, den Tag besprechen und zusammen darüber beten.

Der Weg vom missbräuchlichen zum intimen Quadranten führt von dem Entschluss, sich gegenseitig nicht mehr zu verletzen, über das Erlernen eines respektvollen und wohlwollenden Umganges bis zur Bereitschaft, sich selbst verletzlich zu machen. Das Vertrauen, das dazu untereinander benötigt wird, muss zuerst erarbeitet werden. Das klingt nach einem Prozess und das ist es auch. Wenn man aber dann eines Tages realisiert, dass man sich in einem anderen Quadranten bewegt als früher, wie sehr hat es sich dann gelohnt, Schritte auf diesem Weg zu tun!

[1] Brown, Brené. I Thought It Was Just Me (but it isn’t) (S.155). Penguin Publishing Group. Kindle-Version.

[2] Brown, Brené. I Thought It Was Just Me (but it isn’t) (S.166). Penguin Publishing Group. Kindle-Version.

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Pin It on Pinterest

Share This

Share This

Share this post with your friends!