Familie – Wege zur Veränderung
Als ich vor ein paar Wochen einen Artikel zum Thema „Perfekte Familien? Gesunde und gut funktionierende Familien!“ schrieb, legte ich die fünf Freiheiten dar, die meiner Meinung nach die Grundlage für eine gesunde Familie sind.
Dann schauten wir uns die Dynamik einer Familie an, die auf Scham basiert ist und ihre acht Merkmale.
Nun stellt sich natürlich die Frage:
- Wie kann ich nun konstruktiv mit dieser Information umgehen?
- Gibt es Hoffnung für mich, wenn meine eigene Geschichte geprägt ist von den Dynamiken der Scham, anstelle der Realität der fünf Freiheiten?!
- Wie kann ich meine Verhaltensmuster angehen und einen Prozess der Veränderung eingehen?
In der Einleitung ihres Buches „Es gibt keine perfekten Eltern“ beschreibt Isabelle Filliozat auf eindrucksvolle Weise die Realität, der man bei der Gründung einer Familie begegnet:
„Es ist gar nicht so einfach. Die Kinder reden über uns.“(…)
„Über unsere Vergangenheit, unsere Erfahrungen, unsere Ängste und Unsicherheiten. Diese Realität wird zu oft in den Erziehungsbüchern ausgelassen. Die Beziehung zum Kind, aber auch zwischen Vater und Mutter, zwischen den jeweiligen Eltern und Schwiegereltern haben einen Einfluss auf die Beziehungen. Nicht zu vergessen die Kraft des Unbewussten, des Ungesagten, der Geheimnisse, der unterdrückten Gefühle, des Grolls, der unausgesprochenen Schmerzen, die es in der Familie gibt. Das alles spielt eine Rolle“. [1]
Sie lädt die Leser auf eine innere Reise ein, bei der es nicht nur darum geht, mehr zu wissen und zu verstehen, sondern sich verändern zu können.
Sie fordert ihre Leser auf, nicht einfach Toleranz gegenüber sich selbst auszuüben, sondern die Toleranz durch echte Selbstachtung zu ersetzen.
„Das heißt, das eigene exzessive Verhalten als solches zu betrachten, ohne Toleranz, aber ohne sich selber zu verurteilen. Wir können uns sagen: „Wenn ich so handle, wie ich es tue, dann nur, weil ich Gründe dafür habe. Jetzt gilt es nur noch, diese Gründe zu entdecken, damit ich die Freiheit, mich so zu verhalten, wie ich es wirklich will, wieder erlangen kann. » [2]
Mein persönlicher Werdegang ist geprägt von dieser „Selbstachtung“ wie sie es nennt. Ich wollte diese Ursachen entdecken, die mein Leben und meine liebsten negativ prägten. Ich wollte in diese Freiheit hineinwachsen „mich so zu verhalten, wie ich es wirklich will“.
Als ich dann vor einiger Zeit das Buch „ Aber keiner darf‘s erfahren – Scham und Selbstwertgefühl in Familien“ las, entdeckte ich ein Raster, das von den Autoren entwickelt wurde.
Ich fand dieses Raster sehr hilfreich, um meinen persönlichen Heilungsprozess und mein Verständnis von einer „gesunden“ Familie zu bilden und zu vertiefen.
Dieses Gitter wird auf Englisch “Shame control model of abusive family interaction” genannt. Also ein Gitter, um missbräuchliche Familieninteraktionen zu erkennen, und sich in Bewegung zu setzen um in eine Freiheit zu kommen, damit eine gesunde Familieninteraktion gelebt werden kann.
Wie die Autoren dies darstellen, möchte ich nun in diesem Artikel beschreiben.
Aktiver Missbrauch [3]
Das erste Fenster zeigt uns aktiven Missbrauch.
Dies repräsentiert individuelles Verhalten oder familiäre Interaktionen, in denen offener Missbrauch stattfindet. Er ist greifbar.
Meistens können Kinder, die in einem solchen Elternhaus aufwachsen, klar definieren, was für sie Schmerzhaft oder demütigend war: „Das anschreien, die Demütigungen und Erniedrigungen, die körperliche Gewalt, der sexuelle Missbrauch, der Alkoholmissbrauch, das hohe Mass an Vernachlässigung“ … all das sind Verhaltensweisen, die in diesem Quadrant zu finden sind. Als ich meine eigene Familie im Licht dieses Fensters spiegelte, schrieb ich:
„Das Verhalten meines Vaters spielte sich in meiner Kindheit in diesem Fenster ab. Er verhielt sich immer tyrannisch. Er war nie körperlich gewalttätig. Aber wir alle beugten uns unter der Kraft seiner emotionalen und geistlichen Wellen der Kontrolle, die aus Härte, Rigidität, Scham, Schuldzuweisungen und Depressionen bestanden. Meine Geschwister und ich wussten sehr gut, wovon wir geheilt werden mussten und was wir vergeben mussten; welche Dinge er in unsere Leben implementiert hatte und wovon wir frei werden mussten.“
Stiller Missbrauch [4]
Der zweite quadrant ist meiner Erfahrung nach viel subtiler und weniger Offensichtlich.
„In diesen Quadrant fällt die Drohung, den anderen zu verlassen, hierher gehören die Schuldzuweisungen und das sich anschweigen.“
Dieses Verhalten hat verheerende Auswirkung auf unsere Seele. Weil es nicht offensichtlich ist, prägt und formt es das Selbstbild eines Kindes. Zu erkennen
„deine stille Manipulation, deine unterschwellige Botschaft, dass ich nichts wert bin, hat dies oder jenes mit mir gemacht“
ist viel komplexer und schwerer zu erkennen als:
„deine Schläge und deine Beschimpfungen haben mich negativ geprägt“.
Untergrabender Missbrauch, Scham, Schuldzuweisungen, Schweigen, Distanz und Unnahbarkeit sind Wörter, die in dieses Fenster passen.
Die Autoren erklären:
In diesem Quadrant verbringen die meisten betroffenen Familien den Grossteil ihrer Zeit.(..) Bestimmte Familien halten sich nur in diesem Quadrant auf, und der aktive Missbrauch kommt nie zum Ausbruch. In diesen Familien kann sich das Explosionspotential nie durch eine Entladung Luft machen; die Spannung bleibt bestehen und wird von dem oder den sensibelsten Betroffenen als Überempfindlichkeit gegenüber Ärger und Angst vor Kritik oder Vergeltung wahrgenommen“.
Formalität [5]
Der dritte Quadrant repräsentiert ein Verhalten, das anständig, korrekt, eher vorsichtig oder formal ist. Die Beschreibung sagt:
„Die Menschen sind nett zueinander, hören respektvoll zu und verletzen die Intimsphäre der anderen nicht“[6].
Spontanität wird gemieden.
Die Autoren erklären:
„Dieser Quadrant kann der Ort sein, an dem die Familien stecken bleiben, weil sie denken, dass ihr Wachstum abgeschlossen ist. Sie sind dem beschämenden und respektlosen Lebensstil entkommen und können nun eine andere Geschichte schreiben.“[7]
Doch in ihrer Freundlichkeit liegt eine Kühle, ein Unvermögen, eine Beziehung der Intimität und Nähe zuzulassen.
Beim Lesen dieser Beschreibung fand ich mich selbst wieder. Dies ist die Art und Weise, wie ich reagiere, wenn ich mich verletzt, überfordert oder gestresst fühle. Ich bin genug wiederhergestellt, um mir niemals zu erlauben, andere zu beschämen, sie durch Schuldzuweisungen oder andere Arten von Missbrauch zu verletzen, weder in aktiver noch passiver Form.
Jedoch halte ich mich zurück und kontrolliere meine Aktionen und Reaktionen. Für Benny waren und sind diese Zeiten jeweils besonders herausfordernd: Ich bin zwar präsent aber nicht greifbar; echte Intimität ist nicht wirklich möglich und das Ganze hinterlässt ein Gefühl von „Einsamkeit“ bei ihm und bei den Kindern.
Intimität
Der innige, spontane Quadrant ist der ultimative Schritt zur Heilung.
Dies ist ein Ort, an dem Leben stattfindet. Jeder wird respektiert, aber mehr als das:
Es ist ein Ort, an dem die vier Grundlagen der menschlichen Kompetenzen und die fünf Freiheiten ausgelebt werden. [8]Wie in diesem Artikel beschrieben, bedeutet das nicht, dass dort Perfektion herrscht; diese wird in einer solchen Familie auch nicht erwartet.
„Man macht Fehler, Leute werden verletzt und wütend, Grenzen werden überschritten, und jeder ist für sein Verhalten verantwortlich. Es gibt immer einen Ausweg. Wiedergutmachung wird erwartet, ist möglich und wird in den Beziehungsdialog eingebracht. Selbst Schamgefühle sind möglich und werden besprochen, und nicht etwa als Geheimnis abgeschirmt, verzerrt oder zu destruktiven Zwecken benutzt“. [9]
Der Umgang einer solchen Familie ist ungekünstelt und spontan.
Ich liebe die Familie, die Benny und ich zusammen haben können. Wir sind beide einen langen Weg der Heilung und Wiederherstellung gegangen. Beide konnten nicht nur verstehen, was in unseren Herkunftsfamilien schmerzhaft war, sondern von innen heraus wiederhergestellt werden, um eine gesunde, blühende Familie zu kreieren. Wie oben beschrieben, bewegen wir uns noch nicht immer im „Quadrant der Intimität“.
Jedoch sind wir in einem Prozess wo wir uns mit wachsender Freiheit und Unbeschwertheit dort wiederfinden.
Hast du dich in einem der Fenster wiedergefunden? Vielleicht stellst du dir nun die Frage
„Wie komme ich von dort wo ich mich jetzt befinde, zum Quadrant der Intimität?“
Im nächsten Artikel werde ich dazu mehr schreiben. Wir werden uns die drei spezifischen Punkte ansehen, welche die Autoren hervorheben. Diese werden veranschaulichen, wie konkret eine Veränderung angegangen werden kann.
- [1]Filliozat, Il n’y a pas de parent parfait, 2008, p. 16/17
- [2] Filliozat, Il n’y a pas de parent parfait, 2008, p.23
- [3],[4],[5],[6],[7] Fossom/Mason, Aber keiner darf’s erfahren, 1992, p.153
- [8] wie in diesem Artikel beschrieben
- [9] Fossom/Mason, Aber keiner darf’s erfahren, 1992, p.154
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